Beckenschiefstand / Beinlängendifferenz
Man muss nur die richtigen Fäden ziehen
Iliosakralgelenke sind stabil
Das bedeutet, die einseitige Blockierung eines Iliosakralgelenks (ISG) ist sehr unwahrscheinlich (wie immer wieder von Therapeuten behauptet), weil es nicht, wie die landläufige Vorstellung aus dem Gelenk rutschen oder es zu einer Blockade kommen kann. Das ISG ist ein geradezu perfektes Gelenk, das sich theoretisch in jede Richtung drehen kann. Weitere Einzelheiten (ISG)
Wie kann ein Turm sich fortbewegen, ohne umzukippen?
Wir Menschen haben schon eine eigenartige Figur. Sie ähnelt einem langen, schmalen Turm mit den entsprechend langen Hebeln. Zur Erinnerung: wir bestehen aus zwei Hälften, die tatsächlich gleich lang sind. Die Trennlinie ist die Ebene der Hüftgelenke. Oben, alle wichtigen Sachen zum Leben, unten reines Fortbewegungsinstrument. Die ganze Säule muss auf ein paar Quadratzentimetern getragen und fortbewegt werden (Füße). Der Übergang von oben nach unten ist tricky. Das kann nicht ein einzelnes Gelenk sein. Diese Gegend muss nach allen Seiten hin beweglich sein, sonst gäbe es Einschränkungen, die automatisch zu Schwierigkeiten führen.
Die Beckenknochen in der Bewegung stehen immer schief
Jedes Becken ist schief, auf jeden Fall, solange es in Bewegung ist, bei jedem Schritt, den wir machen. Das ist insofern tröstlich, als damit zum Ausdruck kommt, dass eine der wichtigsten Eigenschaften des Beckens die ist, sich nach allen Seiten dreidimensional bewegen zu können. Dabei sind auf das Becken beschränkt, 5 Gelenke beteiligt. 2 Hüftgelenke, 2 Iliosakralgelenke und vorne die Symphysenfuge.
Was passiert beim Gehen?
Wenn wir einen Schritt mit dem rechten Bein nach vorne machen, dann klappt automatisch die rechte Beckenschaufel nach vorne und nach innen und schließt damit das Becken automatisch. Die linke Beckenschaufel ist zum Ausgleich nach hinten gekippt und muss sich ein wenig öffnen. Die Bewegung können Sie nachvollziehen, wenn Sie einen Ball mit beiden Händen fassen und nun die Hände nach außen und innen drehen. Bei jeder Bewegung dreht sich die eine Hand (das eine Gelenk) nach vorne und innen während die andere Hand (das andere Gelenk) genau das Gegenteil machen muss, es bewegt sich nach hinten und außen. Hierbei sind die Iliosakralgelenke maßgeblich beteiligt und natürlich vorne die Symphyse.
Beckenschiefstand, ein vorübergehendes Ereignis, ein Schnappschuss
Haben Sie eigentlich Ihren „Beckenschiefstand“ selbst entdeckt oder hat Ihnen dabei ein Fachmann geholfen? Die allermeisten Patienten, die mit einem Beckenschiefstand in die Praxis kommen haben die Diagnose von einem Therapeuten oder von einen eigenen statischen Bild, zB. von einem Spiegel. Das heisst, man muss genau hinsehen, um überhaupt etwas zu erkennen. Verändert man die Haltung, schon ist das Phänomen verschwunden. Wir könnten also auch sagen, mit dem Begriff Beckenschiefstand meinen wir einen Zustand, der mitten in einer Bewegung Halt gemacht hat, und in einer bestimmten Position eingefroren ist. So nimmt es nicht wunder, wenn das Bild eines Patienten mit verschobenem Becken, aufgenommen in einer Ruheposition, dem Schnappschuss von einem gesunden Sportler in Bewegung gleichen kann. Eine Sekunde später ist die Situation wieder eine völlig andere. Müssen wir überhaupt den Beckenschiefstand beachten oder ist es nur eine willkommene Erklärung für einen sonst nicht ein zu ordnenden Schmerz?
Es geht um Verspannung und nicht um „wie sieht das aus“
Dieser komische Turm hat eine besondere Konstruktion. Er ist wie ein Haus in verschiedenen Etagen aufgebaut (Kopf, Schulter, Rumpf, Becken). Die Etagen sind nicht steif, sondern können sich in drei Dimensionen bewegen. z.B. können Sie Ihren Kopf drehen, zur Seite kippen oder nach vorne nicken. Diese dreidimensionalen Ebenen sind nicht unbedingt wie bei einem Haus waagerecht ausgerichtet, sondern eher irgendwie schräg. Das richtet sich nach der jeweiligen Beanspruchung dieser Ebene (Haltung). Wenn diese Ebenen alternierend kippen, also z.B. Kopf nach rechts, Schulter nach links, Becken wieder nach rechts, dann ist jeder einzelne Abschnitt isoliert betrachten schief und krumm. Die ganze Konstruktion aber kann durchaus spannungsfrei und völlig beweglich sein, ohne Beeinträchtigung und Schmerzen. Hier wäre es sogar sträflich, irgendetwas zu verändern.
Wollen Sie unbedingt einen „idealen“ Körper?
Es kommt also auf die Verspannung an und nicht auf Schönheit und Ebenmäßigkeit. Tatsächlich hat einer meiner Patienten einen beneidenswerten schönen, idealen Körper. Er ist von Beruf Tänzer. Gerade Haltung, durchtrainiert, eine edle Gestalt. Aber leider immer wieder Schmerzen, weil es immer wieder zu berufsbedingten Verspannungen kommt (wie auch bei so manchem Sportler).
Beckenwinkel sind individuell
Eine Vorschrift zu erlassen, wie die einzelnen Winkel im Becken zu stehen haben, halte ich für wenig nützlich. Jeder Mensch hat seine individuellen, körperlichen Voraussetzungen und wird ein wenig anders geformt sein. Verletzungen, Strapazen, einseitige Belastungen formen den Körper weiter. So bekommt im Laufe des Lebens jeder seine sehr eigene, unverwechselbare Gestalt. Wichtig sind spannungsfreie Belastungsstrassen.
Die Mitte des Körpers – alles dreht sich hierum
Das Becken ist die wichtigste muskuläre Schaltzentrale des Körpers. Von hier aus ziehen die größten Muskeln in alle Richtungen. Sie sind peinlich darauf bedacht, jede Dysbalance auszugleichen, zwischen oben und unten, vorne und hinten und auch links und rechts. Erst, wenn das nicht mehr so einfach gelingt, kann eine bestimmte Haltung nicht mehr verlassen werden und wird dann in dieser Stellung eingefroren.
Das übliche Spiel, einer zu kurz, einer zu lang
Das geschieht dadurch, dass ein Muskel (Muskelgruppe) sich zusammenzieht und verspannt. Der verkürzte Muskel kann keine vernünftige Arbeit mehr leisten (hat keinen Hubraum mehr). Da er irgendwo an einer festen Stelle (Knochen, Faszie) angewachsen ist, zieht er diese Struktur zu sich hin. Auf der anderen Seite des Knochens agiert aber ein Gegenmuskel. Der musste dem stärkeren, kürzeren Muskel nachgeben und kann nicht verhindern, selbst in die Länge gezogen zu werden. Dieser Muskel, das „Opfer“, schmerzt. Er erhält üblicherweise Zuwendung in Form von Massagen, Salben, Verbänden, Spritzen usw.. Der „Täter“, der gezogen hat, bleibt meist unbemerkt. In wenigen Therapieansätzen wird nach ihm gesucht. Logisch, dass das „Opfer“ auch nach 10 Jahren noch „Opfer“ ist und seinen Besitzer peinigt.
Unser Becken, die grosse Kreuzung
Damit der aufrechten Gang funktioniert, mussten spezielle Muskelzüge konstruiert werden. Vereinfacht könnte man sagen, die Beckenmuskulatur hat die Form eines Kreuzes. Die senkrechten stellen eine Verbindung zu Rumpf und Beinen her. Die kennen wir, weil wir sie jeden Tag sehen können. Die waagerechten sind unsichtbar im Becken verborgen.
Sie ziehen rechts und links zu den beiden Oberschenkeln und pressen die eigentlich frei schwebenden Hüftkugeln nach innen in die Hüftpfannen. Wenn wir beim Gehen von vorne das Becken betrachten und nur die Muskeln sehen könnten, würden wir ein Kreuz beobachten, das von einer Seite auf die andere wackelt, zugleich auch nach vorne und hinten schwankt und sich dabei auch noch mit einem Arm abwechselnd nach vorne streckt. Zu diesem Spiel werden bei jedem Schritt jeweils 31 Muskeln auf jeder Seite aktiviert. Ganz schön kompliziert. Jetzt können Sie sich vorstellen, was die Verspannung einer einzelnen Muskelgruppe anzurichten vermag.
Der Körper hat viele Möglichkeiten, zu reagieren
Der Körper hat für diesen Fall eine kluge Strategie entwickelt. Nehmen wir folgende Situation an: Die linke Seite des Beckens ist durch einen verletzten Beinmuskel nach unten gezogen. Der linke Beckenkamm ist also tiefer als der rechte. Das Becken ist nach links gekippt. Wenn der Körper jetzt nichts unternehmen würde, würde er nach links umfallen. Also sucht er zum Ausgleich eine andere Haltung.
Es stehen ihm eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung. Intuitiv wird er immer die momentan beste Lösung wählen. Vielleicht aktiviert er Muskeln, die die Lendenwirbel nach rechts biegen oder er schiebt den ganzen Oberkörper auf die rechte Seite oder er dreht die rechte Schulter nach vorne oder er knickt in der Hüfte ein oder..oder..oder. Auf jeden Fall wird klar, dass diese an sich kleine Veränderung nach oben und unten eine Menge Umstellungen bewirken kann.
Immer wieder muss der Körper neue Lösungen finden, weil im Laufe des Lebens andere Probleme in Form von Verletzungen und anderen Traumata dazu kommen. Die Verspannungen werden zahlreicher. Zunehmend mehr Muskelketten und -gruppen sind betroffen. Da darf es nicht wundern, warum wir alle im Alter ein wenig unbeweglicher werden.
Die Faszien konstruieren den Körper
Dabei sind es ja nicht die Muskeln. Die verspannen nur in geringem Masse. Die ganze Konstruktion wird von dem Bindegewebe gehalten, von den Bändern, Fasern, Platten, Faszien, Kapseln. Hier sitzen auch die zahlreichen Schmerzrezeptoren. Diese myofaszialen Leitbahnen lassen sich durch den ganzen Körper verfolgen. Sie zeigen den Weg der höchsten Belastung. So ist es fast normal, dass beim Beckenschiefstand nicht nur ein Schmerzort angegeben wird. Die Hauptschwachstelle wird im Beckenbereich sein und von hier ausstrahlen. Hier in der Nähe sind auch meist die „Täter“ zu finden.
Irgendwann ist der Körper festgefahren
Irgendwann ist das System festgefahren. Eine eigene Korrektur ohne Hilfe ist nicht mehr möglich. Die Schmerzen nehmen zu. Die kaum mehr funktionstüchtigen Muskeln, die einen verkürzt, die anderen überdehnt, hemmen sich gegenseitig. Die zunehmende Schwäche lässt alles noch weiter in sich zusammen sinken. Eine Falle aus der es kein Entrinnen gibt? – Sie ahnen es. Die Lösung des Problems ist ziemlich einfach.
Nicht sofort auf die Schmerzstelle stürzen
Es führt nicht sehr weit, sich sofort auf die Stelle des Schmerzes zu stürzen und hier anzufangen zu graben. Man wird nicht viel bewirken können. Das heisst, die Schmerzen bleiben oder werden bald wieder kommen. Medikamente können ein wenig entspannen, bringen aber keine grundsätzliche Veränderung. Durch technische Verfahren (MRI, Röntgen) hofft man, einen sichtbaren Fehler im Gewebe zu finden. Es genügt, den ganzen Menschen von außen zu betrachten. Wer genau hinsieht und genügend Erfahrung hat, kann einen wesentlichen Teil der Geschichte dieser Person in Sekunden erfahren.
Im Auftreten, in der Haltung spiegelt sich das ganze Leben wieder.
Beim Beckenschiefstand werden häufig mehrere Schmerzbereiche angegeben, sowohl im Rücken, im Becken- und Leistenbereich und gar nicht so selten in den Beinen
Bitte nicht sofort auf die Schmerzstelle stürzen!
Ein Fehler kann durch einen anderen ausgeglichen werden
Wenn man genau hinschaut, sind bei jedem sehr viele kleine und auch größere Verbiegungen zu sehen. Die müssen da sein und sind oft von keinerlei Bedeutung. Wenn insgesamt die Balance bewahrt ist, wenn ein „Fehler“ durch einen anderen ausgeglichen werden kann, bleibt alles in Ordnung. (Ein Golfspieler kann zur Elite gehören, obwohl jede einzelne Phase seines Schwungs für sich alleine betrachtet eine Katastrophe ist) Treten aber chronische Schmerzen auf, also immer wieder kehrende, dann muss irgendwo etwas verändert werden.
Nicht auf den Knochen stürzen
Bis zu der revolutionären Erkenntnis, dass das Bindegewebe Druck und Zug verteilt und somit die Haltung bestimmt (Tensegrity), war der Knochen der verantwortliche Lastenträger. Entsprechend viele Empfehlungen gab es im letzten Jahrhundert, wie man durch Verstellen der Knochen und Gelenke einen Beckenschiefstand ausgleichen kann. Wir wissen jetzt, die Erfolge können, wenn überhaupt, nur vorübergehender Natur sein.
Haltungsanalyse bringt Klarheit
Eine ganz gute Möglichkeit die generellen Probleme zu erkennen, bietet die Haltungsanalyse an Hand von Fotos. Hier hat man Zeit und Muße, Dinge aus zu blenden, zu vergleichen und auszumessen.
Das weitere Vorgehen ergibt sich aus den Befunden. Im Prinzip geht es darum, die Zeit zurück zu drehen, die Übeltäter zu identifizieren und in einer bestimmten Reihenfolge die einen Faszien zu verlängern, die anderen zu verkürzen. Das ist eine Arbeit, wie wir sie kennen von einem Marionettentheater, in dem der Spieler einzelne Fäden zieht, um damit die Haltung zu ändern. Uns gelingt das nicht zuletzt deshalb vergleichbar gut, weil wir eine Methode haben, mit der jeder einzelne Sehnenstrang auf seine Funktion geprüft werden kann und wir die benötigten Muskelgruppen gezielt funktionell einsetzen können. Das Becken wird eine ausgeglichene Position einnehmen und die sonstigen Verschiebungen werden sich von selbst in die beste, mögliche Stellung bringen.
Aber – nur selbst machen bringt Erfolg
Es geht nicht ganz von selbst, denn hier sind Sie gefragt. Nur bestimmte Übungen, konsequent ausgeführt, werden Ihre Haltung verändern. Sie haben es dann an der Hand, ob Sie ein neues Gleichgewicht erreichen oder wieder in Ihr altes Muster zurück fallen.